CapoeiRadio #5 Groove

Groove

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CapoeiRadio #5 widmet sich dem Thema Groove. Groove beschreibt, anders als Rhythmus, nicht nur Eigenschaften von Musik, sondern behandelt darüber hinaus auch die Seite der Hörer. Groove stellt die Frage, was geschehen muss, damit bei Menschen ein Groove-Gefühl, ein Aufgehen in der Musik erfolgt. In der Sendung wird das Konzept von Groove vorgestellt und musikalisch hintermalt. Da Groove-Empfinden auch von kulturellen Codes und Erfahrungen und der sozialen Rahmung abhängt und mit Groove-Musik meistens um Musik aus afrikanischer Musiktradition gemeint ist frage ich im zweiten Teil der Sendung nach einem Groove-Gefühl deutscher Musik.

In meiner ersten Livesendung habe ich mir etwas zu viel vorgenommen, was zum collagenhaften Charakter der Sendung geführt hat.

Was ist nun Groove? Christiane Gerischer sieht in Anlehnung an die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte eine Schwerpunktverschiebung ästhetischer Erfahrung von einer geistig-bedeutungsorientierten Rezeption zu einer ganzheitlichen, körperlich-sinnlichen Wahrnehmung mit individueller Deutung. Übertragen auf Musik geht es also nicht nur um das Hören und „Genießen“ von Werken. Vielmehr sollen subjektive emotionale Reaktionen der Zuschauer durch die sinnliche körperliche Einbindung der Zuschauer erfolgen. Für Groove-Erfahrungen werden oft soziale Situationen hergestellt, in denen die Trennung zwischen Aufführenden (Musikern und Tänzern) und Publikum (Klatschen, Tanzen, Wippen) tendenziell aufgehoben wird. Es geht um kollektive geteilte und hergestellt körperlich-sinnliche Erfahrungen.

Pfleiderer unterscheidet vier Dimensionen des Groove-Empfindens. Nur wenn diese Dimensionen aufeinander abgestimmt sind kann sowas wie ein Groove-Gefühl entstehen.

  1. Die rhythmische Struktur der Musik: Hier geht es um die Rhythmik und sonstige Eigenschaften der Musik selber. Groove-Musik ist anders als Musik in europäischer Musiktradition in Pattern, also kleinen Rhythmuseinheiten, organisiert, die wiederholt, variiert und ausgetauscht werden können. Besonders dabei ist, das meist verschiedene Pattern mit verschiedenen Instrumenten übereinander gelegt werden und so komplexe und vielschichte Rhytmen entstehen (vgl. vor allem den Aufsatz von Klingmann). Hier einige Beispiele für Bewegungen anregende Gestaltungsmerkmale:
    • Der Beat ist ein Grundschlag, eine „bewegungsorientierte Grundpulsation“, der auch Tänzern eine Orientierung vermittelt
    • Double-time offbeats sind typisch für Samba, ebenso wie offbeats insgesamt sowie die Betonung des zweiten anstelle des ersten Beats. Diese brechen die normalen Beat-Erwartungen.
    • Lebendigkeit in der Musik wird von irregulären Akzenten wie Clave Timeline-Pattern befördert.
    • „Call and response“-Strukturen innerhald von Pattern, die bspw. halb beat- halb offbeat-Akzente setzen, führen zu einem ständigen Spannungsverhältnis.
    • Schnelle Pulsationen auf Snare, Highhead o.ä. unterstützen das. Bei Samba de Roda und Westafrikanischen Musiken wird das auch von Trommeln übernommen
  1. Bewegung: Groove beschreibt das Körperliche eingebunden sein in die Musik. Dies meint sowohl der Musiker als auch der sonstigen Teilhabenden. Capoeira ist da ein Paradebeispiel, weil der komplete Kreis auch körperlich involviert ist.
  2. Die emotionale Dimension beschreibt die emotionale Involviertheit aller Beteiligten. Das Aufgehen in der Musik und der Situation, das auch als Flow-Erlebnis bekannt wird.
  3. Die soziale Dimension meint, dass Groove nicht alleine entsteht. Groove basiert auf der Interaktion und gegenseitigen Bezugnahme von Musikern untereinander sowie der Musiker und aller anderen Beteiligten (Schönes Beispiel aus dem Samba Chula sie der Aufsatz von Döring).

Gerischer hält fest, dass uns Musik immer dann fremd erscheint, „wenn wir noch keine kategorische Wahrnehmung für sie entwickelt haben.“ Um Musik zu verstehen und zu mögen, müssen wir sie entschlüsseln können. Bourdieu (s. Aufsatz) hat den Zugang zu Kunstwerken im Allgemeinen dargestellt. Wir können also nicht nur lernen, Musik zu verstehen, sondern wir haben eine sozial-kulturelle Prägung was unsere Präferenzen und Hörgewohnheiten angeht.

Daraus hat sich mir die Frage nach einem in der deutschen Musiktradition und in deutschen Kollektivritualen verwurzelten Groove-Erfahrungen gestellt. Der Marsch Preußens Gloria entstand 1871 nach dem Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg, der zur Gründung des deutschen Kaiserreiches führte. Zur Siegesparade der zurückgekehrten Truppen wurde der Marsch in Frankfurt (Oder) uraufgeführt. Man hört die Betonung auf den Schlägen eins und drei, die es so schön einfach machen im Gleichschritt zu marschieren.

Ist das so deutsch? Elias Canetti betont, dass jede Nation ihre eigene Charakteristik hat die nicht auf einer rassischen oder ethnische Substanz, sondern auf Erzählungen aufbauen. In diesen Erzählungen werden kollektive Selbstbestimmung vorgenommen: Es werden Vorstellungen eines nationalen Kollektives entworfen: Er vergleicht sie mit Religionen: „Sie haben die Tendenz, von Zeit zu Zeit wirklich in diesen Zustand zu geraten. Eine Anlage dazu ist immer da, in Kriegen werden die nationalen Religionen akut. […] Es ist von vornherein zu erwarten, daß der Angehörige einer Nation sich nicht allein sieht. Sobald er bezeichnet wird oder sich selbst bezeichnet, rückt etwas Umfassenderes in seine Vorstellung, eine größere Einheit, zu der er sich selbst in Beziehung fühlt“ (198). Aufmärsche und die dazugehörige Marschmusik hat nun das Ziel, die Einzelnen in einem kollektiven Akt zu synchronisieren, sich dem nationalen Kollektiv gleichzuschalten. Der Groove der deutsch-nationalen Erzählung ist das Marschieren im Gleichschritt.

Canetti arbeitet Massensymbole unterschiedlicher Nationen heraus: Das Massensymbol der deutsch-nationalen Erzählung ist „Man wird sie [die Massensymbole] in den Vorstellungen und Gefühlen, die die Nationen von sich selber haben, wiederfinden. Aber diese Symbole erscheinen nie nackt, nie allein: Der Angehörige einer Nation sieht immer sich selbst, auf seine Weise verkleidet, in starrer Beziehung zu einem bestimmten Massensymbol, das seiner Nation das wichtigste geworden ist. In dessen regelmäßiger Wiederkehr, in dessen Auftauchen, wenn es der Augenblick erfordert, liegt die Kontinuität des Nationalgefühls“ (199). Und weiter: „Das Massensymbol der Deutschen ist das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen“ (202).

Canetti betont die besondere Rolle der preußischen Junkerkaste, die den besten Teil des dauernden Offizierskorps stellte. Sie war ein Orden mit strengen, wenn auch ungeschriebenen Gesetzen; oder wie ein erbliches Orchester, das die Musik genau kennt und eingeübt hat, mit der es sein Publikum anstecken soll. „Als der erste Weltkrieig ausbrauch, […] [hatten] viele im Ausland mit der internationalen Gesinnung der Sozialdemokraten gerechnet und staunten über ihr vollkommenes Versagen. Sie bedachten nicht, daß auch diese Sozialdemokraten als Symbol ihrer Nation das ‚Wald-Heer‘ in sich trugen; daß sie selber zur geschlossenen Masse der Armee gehört hatten; daß sie in dieser unter dem Befehl und dem Einfluß eines präzisen und ungemein wirksamen Massenkristalls, der Junker- und Offizierskaste, standen“ (211). Canetti attestiert „den Deutschen“ nach dem ersten Weltkrieg und dem in Deutschland so genannten „Versailler Diktat“ ein schweres Trauma: „Für den Deutschen bedeutete das Wort Versailles nicht so sehr die Niederlage, die er nie wirklich anerkannt hat, es bedeutete das Verbot der Armee; das Verbot einer bestimmten, sakrosankten Übung, ohne die er sich das Leben schwer vorstellen konnte. […] Die Übungen, die ihnen nun versagt waren, das Exzerzieren, das Empfangen und das Weitetrgeben von Befehlen wurde zu etwas, das sie sich mit allen Mitteln wieder zu beschaffen hatten“ (211).

Aus dieser Perspektive ist das Aufbrechen von national-militärischen Hörgewohnheiten und das Bereitstellen von anderen musikalischen Codes wichtiger Bestandteil einer emanzipativen Praxis.

 

Playlist

Literatur zum Thema Groove

  • Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen.
  • Döring, Katharina: Samba Chula do Reconcavo Baiano. Tanz, Musik, Spiel und Lebensfreude!
  • Gerischer, Christiane: Groove – magische Momente. Versuch einer rationalen Annäherung
  • Keil, Charles: Defining Groove
  • Klingmann, Heinrich: Academic Grooves
  • Pfleiderer, Martin: Dimensionen der Groove-Erfahrung.

Literatur Deutschland und der Soldat

  • Simpson, Patricia Anne : Erotics of war in german romanticism.
  • Canetti, Elias: Masse und Macht.
  • Fontane, Theodor: Auf dem Marsch

Seite der Potsdamer Capoeira-Gruppe – Training mit professor estagiario Tarzan